Bundesfachstelle Barrierefreiheit

Bereich InitiativeSozialraumInklusiv

Inklusiver Sozialraum

Für mehr Barrierefreiheit in Kommunen und Regionen

Rede von Dr. Volker Sieger - Einführung in die Thematik

Hier können Sie die vollständige Rede nachlesen, die Dr. Volker Sieger, Leiter der Bundesfachstelle Barrierefreiheit, zur Eröffnung der 3. Regionalkonferenz der InitiativeSozialraumInklusiv (ISI) hielt. Die Konferenz hatte das Thema "Einfach reisen" und fand am 29. September 2020 in Rostock bzw. online statt.

Dr. Volker Sieger:

Ich bin dann mal weg

Hinter dem Thema unserer heutigen Konferenz, „Einfach reisen“, hätte auch ein Fragezeichen stehen können. Ist es für Menschen mit Beeinträchtigungen grundsätzlich möglich, einfach mal eben zu verreisen? Nach dem Motto: Ich bin dann mal weg.

Schaut man sich die Statistiken an, offensichtlich nicht. Zwei Erhebungen aus den letzten Jahren kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Die Zahl der Menschen mit Beeinträchtigungen, die eine mindestens einwöchige Urlaubsreise pro Jahr unternehmen, ist um rund 40 Prozent kleiner als die Anzahl derjenigen, die keine Beeinträchtigung haben. Auch für kurze Ausflüge und Wochenendtrips ergibt sich ein ähnliches Bild.

Selbst wenn das Reisen durch die Corona-Pandemie derzeit eingeschränkt ist – Reisen ist und bleibt ein wichtiges Bedürfnis der Menschen. Und das gilt für alle Menschen, ob alt oder jung, ob mit Beeinträchtigung oder ohne.

Wie aber kommen Wunsch und Wirklichkeit zusammen? Das ist die zentrale Fragestellung unserer heutigen Konferenz.

Auf der einen Seite steht nach wie vor die im Vergleich zu allen touristischen Angeboten in Deutschland verschwindend geringe Anzahl barrierefreier Angebote. Auf der anderen Seite versammeln sich hier und heute zahlreiche Akteurinnen und Akteure, die bereits einiges bewegt haben. Und auch die Anzahl der Einreichungen zum diesjährigen Bundesteilhabepreis, der das Thema „Barrierefrei Reisen in Deutschland“ hat, lässt aufhorchen. Trotz der schwierigen Situation, in der sich der Tourismus coronabedingt aktuell befindet, hat es - so viel darf ich verraten - 56 Einreichungen gegeben.

Warum bewegt sich also auf der einen Seite so viel, und warum bleiben auf der anderen Seite immer noch so viele Menschen von touristischen Angeboten ausgeschlossen?

Vielleicht liegt es mit daran, dass der Tourismus kein homogenes Handlungsfeld ist. Neben der Entwicklung einzelner, auch auf die Bedürfnisse von Menschen mit verschiedenen Beeinträchtigungen zugeschnittenen Angeboten, erfordert er fast immer das Zusammenwirken verschiedener Akteurinnen und Akteure. Das einzelne Angebot verliert an Strahlkraft, wenn es nicht eingebettet ist in eine ganze Reihe von anderen Angeboten und Dienstleistungen. Mehr noch als für andere Menschen ist für Reisende mit Behinderung die gesamte touristische Servicekette von Bedeutung. Denn naturgemäß möchte man sich im Urlaub nicht nur an einem Ort aufhalten, sondern die Vielfalt seines Reiseziels genießen - einschließlich der dazugehörigen Gastronomie, der Sehenswürdigkeiten, der kulturellen Angebote, aber auch des Einzelhandels oder der sonstigen Grundversorgung.

Auf der anderen Seite bietet der Tourismus so viel Potenzial - wenn er denn als Querschnittsaufgabe verstanden wird, an der man gemeinsam arbeiten muss. Er stärkt die örtliche Wirtschaft, schafft Arbeitsplätze und kann - insbesondere in ländlichen, oft auch strukturschwachen Regionen dazu beitragen, für die einheimische Bevölkerung beispielsweise die medizinische Grundversorgung zu sichern, den Einzelhandel aufrechtzuerhalten oder auch den öffentlichen Personenverkehr zu entwickeln bzw. zu stabilisieren. Damit ist der Tourismus wie vielleicht kein anderes Handlungsfeld geeignet dafür, Sozialräume inklusiv zu gestalten.

Das funktioniert aber nicht von selbst. Auch wenn das Potenzial vorhanden ist, braucht es konzeptionelle Klarheit, zielgerichtete Aktivitäten, Zusammenarbeit und schlussendlich auch die entsprechenden Rahmenbedingungen.

Auf der einen Seite sind die Anbieter in der Pflicht. Sie müssen ihre Dienstleistungen für Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen, wenn man so will, inklusiv einbetten in die Gesamtpalette ihrer Angebote. Das fängt schon beim ansprechenden Design eines barrierefreien Badezimmers an und hört beim selbstverständlichen Service mit der Speisekarte in Braille noch lange nicht auf. Sie müssen die touristische Servicekette im Blick haben, was die Kommunikation und Abstimmung mit angrenzenden Dienstleistern und kommunalen Institutionen beinhaltet. Und schließlich hängt der Erfolg eines Angebotes auch davon ab, wie exakt es beschrieben und beworben wird. Ich will als Kunde genau wissen, was mich erwartet. Bunte Bilder und nicht eingehaltene Versprechungen führen gerade bei Reisenden mit spezifischen Bedürfnissen dazu, dass die Reise zur Tortur werden kann. Es gibt nichts Schlimmeres als eine enttäuschte Vorstellung, vor allem wenn wir über den Urlaub als schönste aller Jahreszeiten reden.

Auf der anderen Seite ist die Politik gefordert. Sie muss die Rahmenbedingungen schaffen, innerhalb derer sich inklusive und barrierefreie Angebote entwickeln und entfalten können. Dass dabei die Kompetenz der Menschen mit Behinderung einzubeziehen ist, versteht sich fast von selbst.

Ich will das Beispiel nicht überstrapazieren. Aber wenn deutlich weniger Elektroautos gekauft werden als gewünscht, weil es keine flächendeckenden Lademöglichkeiten gibt, die Aufsteller von Ladesäulen ein flächendeckendes Angebot aber erst dann realisieren wollen, wenn ausreichend Elektroautos auf dem Markt sind, dann ist die Politik gefordert.

Ähnlich verhält es sich mit barrierefreien touristischen Angeboten. Wenn allein schon die Anreise an den Urlaubsort an entsprechenden barrierefreien Mobilitätsangeboten scheitert, dann offenbart sich hieran schon ein Systemfehler. So ist es nicht ausreichend, wenn der Staat nur punktuell unterstützend wirkt. Um einen barrierefreien Tourismus in Kommunen und Regionen und in unterschiedlichen Segmenten zu fördern und sein inklusives Potenzial zu erschließen, bedarf es einer Gesamtstrategie und eines ganzen Maßnahmenbündels.

Denn nur, wenn die Rahmenbedingungen stimmen und förderlich sind, erhalten die Akteurinnen und Akteure vor Ort den Schub, den sie verdienen und den unsere Gesellschaft benötigt.

Rostock, 29.09.2020