Bundesfachstelle Barrierefreiheit

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Interview mit Martin Müller, Vizepräsident der Bundesarchitektenkammer

Es gibt in Deutschland viel zu wenig barrierefreien Wohnraum. Mit Martin Müller, Vizepräsident der Bundesarchitektenkammer, sprechen wir darüber, ob serielles Bauen eine Lösung sein könnte, um schneller mehr barrierefreien Wohnraum zu schaffen und mit welchen anderen Mitteln das Tempo für barrierefreies Bauen erhöht werden könnte.

Herr Müller, der Mangel an barrierefreiem Wohnraum in Deutschland ist eklatant und derzeit ist, auch abgesehen von den steigenden Baukosten, keine wesentliche Besserung der Situation in Sicht. Wie könnte Ihrer Ansicht nach mehr barrierefreier Wohnraum geschaffen werden?

Martin Müller:

Barrierefreiheit ist ein anerkanntes gesellschaftliches Ziel und stellt einen Mehrwert für die ganze Gesellschaft, sowohl für Menschen mit Behinderungen als für Familien, Kinder, ältere Menschen dar. Deren Umsetzung sollte für den öffentlichen Bauherren selbstverständlich sein. Bei privaten Bauherren und Investorinnen muss, je nach Projekt, oftmals noch Überzeugungsarbeit geleistet werden, dass Barrierefreiheit den langfristigen Wert einer Immobilie steigert. Architektinnen und Planer sind wichtige Multiplikatoren für Inklusion. Wir wünschen uns eine Anhebung der Förderungen, z.B. im KfW-Programm „Altersgerecht Umbauen“ sowie entsprechende bauordnungsrechtliche Vorgaben.

Im aktuellen Koalitionsvertrag ist das Ziel genannt, 400.000 neue Wohnungen pro Jahr zu bauen. Angesichts des demografischen Wandels und der zu erwartenden zunehmenden Zahl von Menschen, die auf barrierefreien Wohnraum angewiesen sind: Wie viele davon müssten barrierefrei sein?

Martin Müller:

Nach meiner Einschätzung sollte ein signifikanter Teil der neuen Wohnungen barrierefrei gestaltet sein, zumindest aber die vorgesehenen 100.000 Sozialwohnungen. Das Statistische Bundesamt meldete 2018, dass nur etwa 2 % aller Wohnungen und Einfamilienhäuser annähernd barrierefrei sind, jedoch ca. 13 Mio. Menschen in Deutschland mit einer Beeinträchtigung leben. Der Bedarf ist also sehr groß, darauf weist auch Jürgen Dusel, der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung hin. Er betont immer, dass eigentlich nur barrierefreier Wohnungsbau den Namen sozialer Wohnungsbau verdiene – dem möchte ich mich anschließen. Mit Blick auf den demografischen Wandel und eine immer älter werdende Gesellschaft muss man unbedingt von einem stark steigenden künftigen Bedarf ausgehen und auch danach handeln.

Auf Landesebene gelten die Landesbauordnungen (LBOs), die ein gewisses Maß an barrierefreien Wohnungen vorschreiben. Welche Landesbauordnungen sind dabei Vorreiter, also welche Bundesländer fordern am meisten barrierefreien Wohnraum?

Martin Müller:

Regelungen zum Barrierefreien Bauen haben mittlerweile in die meisten der Landesbauordnungen ihren Eingang gefunden und das ist sehr zu begrüßen. Es sollte dabei aber nicht um einen Überbietungs-Wettbewerb gehen. Eine Übersicht zur „Schärfe“ der Vorgaben in den einzelnen LBOs und künftiger Ambitionen aus der Landespolitik ist mir nicht bekannt.

Ein sehr konkretes Beispiel gibt es aus Nordrhein-Westfalen: Mit der 2019 und 2021 geänderten Landesbauordnung wurde ein Paradigmenwechsel im Wohnungsbau eingeleitet: Wohnungen in Gebäuden ab der Gebäudeklasse 3 müssen im erforderlichen Umfang barrierefrei sein. Mit der Einführung der DIN 18040-2 als Technische Baubestimmung in NRW sind also die bauordnungsrechtlichen Mindestanforderungen an die Barrierefreiheit im Wohnungsbau verankert worden. Damit werden über die bauordnungsrechtlichen Vorgaben die Voraussetzungen für eine umfassende Teilhabe von Menschen mit Einschränkungen geschaffen.

Wie wird die Umsetzung der vom Gesetzgeber geforderten Maßgaben bezüglich der Barrierefreiheit beim Neubau oder Umbau von Architekten und Baufirmen (qualitativ) gewährleistet?

Martin Müller:

Architektinnen und Architekten werden für Planungs- oder Überwachungsleistung beauftragt, die als Grundlage für die Errichtung eines mangelfreien Bauwerks dient, dies schließt dann auch die Umsetzung der Barrierefreiheit für das jeweilige Bauprojekt ein. Baufirmen sind für die Umsetzung der Planungen verantwortlich. Die abschließende Kontrolle der Einhaltung von Anforderungen der öffentlich-rechtlichen Bauvorschriften obliegt dem Bauamt bzw. der Bauaufsichtsbehörde und bezieht sich üblicherweise auf die Baugenehmigung.

Um die Schaffung von barrierefreiem Wohnraum schneller verwirklichen zu können, wäre serielles Bauen ein Mittel hierfür?

Martin Müller:

Nach gegenwärtigem Erfahrungsstand kann eine serielle Bauweise geeignet sein, eine Beschleunigung beim Bauen herbeizuführen und bei entsprechenden Stückzahlen kann es sich auf die Baukosten positiv auswirken. Das hängt aber immer vom individuellen Bauprojekt ab und lässt sich nicht pauschal auf die Schaffung von barrierefreiem Wohnraum anwenden.

Beim seriellen Bauen dürfen bei der Gestaltungsqualität keine Abstriche gemacht werden. Das lehren uns einige Fehler aus der Vergangenheit bei Großwohnsiedlungen der 60er und 70er Jahre. Auch muss die umfassende Inklusion bei der städtebaulichen Einbindung und im Außenraum des Wohnquartiers bedacht werden.

Könnten beim seriellen Bauen Standards der Barrierefreiheit mit eingebracht werden und wenn ja, von wem könnten diese Standards beeinflusst werden?

Martin Müller:

Standards für Barrierefreiheit und Serielles Bauen schließen sich keinesfalls aus. Architektinnen und Architekten aller Fachrichtungen sind Experten für gute bezahlbare Lösungen, die auch die Barrierefreiheit einbeziehen. Planungswettbewerbe sind ein wichtiges Instrument zur Findung der besten Lösung und dienen der Qualitätssicherung unserer gebauten Umwelt.

Welche Ideen hätten Sie noch, um das Tempo bei der Schaffung von mehr barrierefreien Wohnraum in Deutschland zu erhöhen?

Martin Müller:

Wir müssen alle Akteure an einen Tisch bringen, wie es derzeit beim Bündnis bezahlbarer Wohnraum geschieht und ein Bewusstsein schaffen für den gesellschaftlichen Mehrwert von barrierefreiem Bauen. Das ist schon ein dickes Brett, aber gemeinsam können wir genug Kraft entfalten, um anstehende Bauaufgaben, trotz der aktuellen Probleme wie Fachkräftemangel, Materialknappheit und Baukostenexplosion, positiv zu bewältigen. Wie bereits erwähnt wird es ohne Anhebung der Fördermittel nicht gehen, wenn wir auf Ebene der Länder und Kommunen das barrierefreie Bauen voranbringen möchten. Hier gilt auf jeden Fall: Viel hilft viel!

Herr Müller, vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person:

Martin Müller ist Innenarchitekt und seit 1988 Mitglied der Vertreterversammlung der Architektenkammer Nordrhein-Westfalen. Seit 2012 ist er Vizepräsident der Bundesarchitektenkammer, dort ist er auch zuständig für das Thema Inklusion. Weitere Informationen: https://bak.de/kammer-und-beruf/ueber-bundesarchitektenkammer/gremien/praesidium/martin-mueller/