Bundesfachstelle Barrierefreiheit

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Interview mit Dr. Philipp Deschermeier, Institut Wohnen und Umwelt

Studien stellen immer wieder fest, wie viel barrierefreier Wohnraum in Deutschland fehlt. Die aktuellste Studie hierzu wurde im April 2020 vom Institut Wohnen und Umwelt (IWU) erstellt. Dr. Philipp Deschermeier ist einer der Autoren. Im Interview erklärt er, wie er die Zahlen zum Bedarf an barrierefreien Wohnungen ermittelt hat, nennt die verschiedenen Vorteile des barrierefreien Umbaus und erläutert die Bedeutung des KfW-Förderprogramms "Altersgerecht umbauen".

Herr Dr. Deschermeier, Sie haben 2020 in einer Studie das KfW-Förderprogramm „Altersgerecht Umbauen (Barrierereduzierung – Einbruchschutz)“ evaluiert, im Auftrag der KfW. Darin erstellen Sie auch eine Prognose für den künftigen Bedarf an barrierefreien bzw. barrierereduzierten Wohnungen. Demnach werden im Jahr 2025 bereits über 3 Millionen barrierereduzierte Wohnungen in Deutschland benötigt. Wie haben Sie diese Zahlen ermittelt?

Dr. Philipp Deschermeier:

Barrierereduzierte Wohnungen sind für verschiedene Teilzielgruppen attraktiv. Viele Menschen haben durch einen Unfall, Pflegebedürftigkeit oder Krankheit einen konkret bestehenden Bedarf an einer barrierereduzierten Wohnung, ältere Menschen profitieren durch Unfallprävention, aber auch Familien brauchen einen hohen Wohnkomfort, beispielsweise breite Durchgänge für den Kinderwagen oder eine bodengleiche Dusche. Entsprechend mussten wir in unserer Studie die Zielgruppe definieren. Wir haben uns an der Gruppe mit konkretem Bedarf orientiert, diese aber sehr weit gefasst. Letztlich haben wir die zukünftige Entwicklung von Haushalten mit mobilitätseingeschränkten Mitgliedern als Grundlage für den Bedarf betrachtet.

Da Sie in der Studie von barrierereduzierten Wohnungen, nicht barrierefreien Wohnungen schreiben: Können Sie kurz den Unterschied zwischen den Begriffen „barrierefrei“ und „barrierereduziert“ erklären?

Dr. Philipp Deschermeier:

Der Begriff „Barrierefreiheit“ leitet sich aus einer DIN-Norm (hier konkret: DIN 18040-2) ab. Die Vorgaben werden in Deutschland über die Landesbauordnungen im Neubau berücksichtigt. Es handelt sich somit um einen definierten technischen Standard. Barrierereduktion ist dagegen nicht eindeutig definiert und beschreibt eine Wohnung mit möglichst wenigen (physischen) Barrieren. Umgangssprachlich wird auch der Begriff „altersgerecht“ verwendet. Der Begriff zielt dabei bewusst nicht nur auf Senioren („altengerecht“ mit einem „n“) ab, sondern schließt jedes Lebensalter ein.

Im Jahr 2025 erwarten Sie den Bedarf von 3.228.000 barrierereduzierten Wohnungen, für 2030 3.550.000 und für 2035 3.709.000 barrierereduzierten Wohnungen. Für 2030 rechnen Sie mit einer Versorgungslücke von über 2 Millionen Wohnungen. Solchen Berechnungen liegen ja bestimmte Grundannahmen zugrunde. Können Sie uns erläutern von welchen Szenarien Sie ausgehen und warum?

Dr. Philipp Deschermeier:

Bei der demografischen Entwicklung haben wir die Erwartungen des Statistischen Bundesamtes genutzt und darauf aufbauend die Anzahl der Haushalte mit Bedarf an barrierereduzierten Wohnungen berechnet. Die Vorausberechnung der zukünftigen Entwicklung ist immer mit Unsicherheit behaftet und dies haben wir durch verschiedene Szenarien abgebildet. So haben wir unterschiedliche Teilzielgruppen betrachtet: Neben Haushalten mit mobilitätseingeschränkten Mitgliedern haben wir auch die Entwicklung von Haushalten mit pflegebedürftigen Mitgliedern untersucht sowie die Anzahl an Familien. Denn diese Gruppen bilden das Bedarfsspektrum umfassend ab. Sie fragen barrierereduzierten Wohnraum aus unterschiedlichen Motiven nach. Die Motive variieren somit zwischen konkretem Bedarfsfall und Steigerung des Wohnkomforts.

Sie haben errechnet, dass zusätzlich zum prognostizierten Angebot an barrierereduzierten Wohnungen jährlich weitere 179.000 Wohnungen neu- oder umgebaut werden müssten, um die Versorgungslücke bis zum Jahr 2030 zu schließen. Was bedeutet das in der Praxis, wenn die neue Bundesregierung sich im Einklang mit der Wohnungswirtschaft vorgenommen hat, jährlich 400.000 Wohnungen zu bauen?

Dr. Philipp Deschermeier:

Beide Werte lassen sich nicht unmittelbar in Einklang bringen. Barrierefreiheit im Neubau wird in den Bauordnungen der Länder geregelt. Die Vorschriften beziehen sich in der Regel auf (größere) Mehrfamilienhäuser. Wie viele barrierefreie Wohnungen entstehen werden, hängt also zentral davon ab, welche Wohnungen (bzw. Gebäude) zukünftig neu gebaut werden. Auch entscheidend wird beim barrierereduzierten Umbau sein, ob die Zuschussförderung der KfW zurückkommen wird, denn diese setzt die notwendigen Anreize für erforderliche Maßnahmen. Gegenwärtig beobachten wir einen starken Anstieg der Rohstoff- und Energiekosten. Entsprechend verteuert sich, in Kombination mit steigenden Bauzinsen, das Bauen. Hinzu kommt der demografiebedingte Fachkräftemangel. Vor diesem Hintergrund erscheinen beide Ziele aktuell ambitioniert.

Der Studie zufolge zieht die große Mehrheit der Befragten im Falle einer Pflegebedürftigkeit das Verbleiben in der eigenen Wohnung einem Umzug in ein Pflegeheim vor: 71 Prozent bevorzugen häusliche Pflege durch Angehörige oder einen Pflegedienst gegenüber dem Heim (28 Prozent). Diese Variante führe zudem zu Kosteneinsparungen bei Sozial- und Pflegekassen. Diese Einsparungen schätzen Sie auf ca. 110 Millionen Euro jährlich. Welche weiteren Vorteile hat der barrierefreie Umbau von Wohnraum?

Dr. Philipp Deschermeier:

Für Bewohner erhöht sich, unabhängig von der gesundheitlichen Situation oder dem Lebensalter, der Wohnkomfort. Besonders ältere Menschen haben ein ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis. Eine barrierereduzierte Wohnung erhöht somit das Sicherheitsgefühl und hilft bei der Unfallprävention. Auf volkswirtschaftlicher Ebene werden nicht nur die Sozial- und Pflegekassen entlastet, sondern es entstehen Wertschöpfungseffekte, wodurch neue Arbeitsplätze geschaffen oder bestehende gesichert werden. Gleichzeitig wird der Gebäudebestand nachhaltig an zukünftig veränderte Anforderungen der Gesellschaft angepasst. Umgebaute Wohnungen sind somit besser an die Anforderungen angepasst und länger (nachhaltig) nutzbar.

Welches Fazit ziehen Sie in der Studie zum KfW-Förderprogramm „Altersgerecht Umbauen“ – an welchen Stellschrauben müsste gedreht werden?

Dr. Philipp Deschermeier:

Das Programm erreicht treffsicher die richtigen Zielgruppen, der besondere Charme der Förderung begründet sich dadurch, dass auch Einzelmaßnahmen gefördert werden können und die Förderung dabei unabhängig vom konkreten Bedarf – also der gesundheitlichen Verfassung – erfolgt. Präventive Umbaumaßnahmen sind somit möglich, was die Förderung einzigartig macht. Bisher war die Förderung auf zwei Wegen möglich: per Kredit und per Zuschuss. Leider wurde der Zuschuss gestrichen. Da besonders Haushalte, die bereits konkreten Bedarf haben, häufig Schwierigkeiten bei der Kreditaufnahme haben, ist diese Entwicklung kritisch. Denn vielmehr ist eine Verstetigung der Förderung durch den wachsenden Bedarf dringend erforderlich.

Herr Deschermeier, vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person:

Dr. rer. pol. Philipp Deschermeier ist Demograf und Immobilienökonom. Er forscht am Institut Wohnen und Umwelt (IWU) zu den Arbeitsschwerpunkten „Analyse von Wohnungsmärkten“ und „Fragen der Wohnungspolitik“. Deschermeier leitet zudem den Arbeitskreis "Demografische und gesellschaftliche Entwicklungen" der Deutschen Gesellschaft für Demographie. Weitere Informationen: https://www.iwu.de/das-iwu/team/pd/

Die Studie:

Institut Wohnen und Umwelt GmbH: Evaluation des KfW-Förderprogramms „Altersgerecht Umbauen (Barrierereduzierung – Einbruchschutz)“ (April 2020 - PDF)