Bundesfachstelle Barrierefreiheit

Bereich InitiativeSozialraumInklusiv

Inklusiver Sozialraum

Für mehr Barrierefreiheit in Kommunen und Regionen

Rede von Dr. Volker Sieger - Einführung in die Thematik

Hier können Sie die vollständige Rede nachlesen, die Dr. Volker Sieger, Leiter der Bundesfachstelle Barrierefreiheit, zur Eröffnung der 2. Regionalkonferenz der InitiativeSozialraumInklusiv (ISI) hielt. Die Konferenz hatte das Thema "Wohnen im inklusiven Sozialraum" und fand am 23. September 2019 in Mainz statt.

Dr. Volker Sieger:

Wohnen wo und wie ich will

Das Thema unserer heutigen Konferenz, „Wohnen im inklusiven Sozialraum“, hört sich im ersten Moment trivial an. Selbstverständlich benötigt jeder Mensch eine Wohnung, die im besten Fall auf seine oder ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist. Und selbstverständlich gehört hierzu auch ein –  im Zweifelsfall barrierefreies – Wohnumfeld, welches das alltägliche Leben einfach und angenehm macht.

Schaut man sich allerdings den Artikel 19 der UN-Behindertenrechtskonvention, der sich auf die unabhängige Lebensführung und die Einbeziehung in die Gemeinschaft bezieht, genau an, wird man leicht feststellen, dass Wohnen im inklusiven Sozialraum eine viel, viel größere Dimension aufweist. In dem betreffenden Artikel wird Menschen mit Behinderungen das Recht zugestanden, gleichberechtigt ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben möchten.

Im Kern geht es hier gar nicht um Wohnen. Es geht um Leben. Meine Wohnung, also die eigenen, im besten Fall auf meine Bedürfnisse ausgerichteten vier Wände, stellt lediglich den zeitlich befristeten, weil meiner aktuellen Lebens- und Arbeitssituation entsprechenden Fixpunkt dar. Lebensentwürfe und -situationen ändern sich jedoch. Heute mehr denn je. Erwerbsbiografien, die nicht vom ersten bis zum letzten Arbeitstag vorhersehbar sind, werden in unserer Gesellschaft zur Regel. Soziale Beziehungen verändern sich schneller als früher. Partnerschaften finden sich, zerbrechen und entstehen unter anderen Vorzeichen und Rahmenbedingungen neu. Gestern ohne, heute mit Kindern. Patchwork ist kein Einzelfall. Auch pflegebedürftige Angehörige werden bei steigendem Durchschnittsalter irgendwann fast zum Normalfall für jeden Menschen, auch für Menschen mit Behinderungen.

Folglich stellen all diese Irrungen und Wirrungen des Lebens nichts Besonderes dar. Sie erfordern von jedem Menschen, je nach Situation, von Zeit zu Zeit zu entscheiden, wo der Lebensmittelpunkt sein soll und in welcher familiären oder sonstigen Konstellation das eigene Leben stattfinden soll. Damit bin ich thematisch ganz eng am Artikel 19 der UN-BRK. Ich entscheide oder muss mich mich für einen Aufenthaltsort entscheiden und dafür, wo und mit wem ich leben will. Der einzige Haken dabei: für Menschen mit Behinderungen funktioniert das in aller Regel nicht – und schon gar nicht reibungslos.

Für die meisten Menschen mit Behinderungen stellt es schon einen großen Fortschritt dar, wenn ihre Bedarfe und Bedürfnisse an einem definierten Wohnort, in einer zur Verfügung stehenden Wohnung und unter Beachtung vorhandener oder notwendiger Versorgungs- und Dienstleistungsstrukturen angemessen berücksichtigt werden. Dies allein ist schon eine große Herausforderung.

 Dem Artikel 19 der Behindertenrechtskonvention ist damit aber bei weitem noch nicht Genüge getan. Inklusion im Sinne der Konvention bezieht sich nicht allein auf eine konkrete Lebenssituation an einem konkreten Ort. Maßstab für tatsächliche Inklusion ist das ganze Leben, von Anfang bis Ende, in wechselnden Kontexten, zumeist an unterschiedlichen Orten.

 Warum betone ich das? Keineswegs, um all die lokalen und regionalen Anstrengungen für die Schaffung eines inklusiven Sozialraums klein zu reden. Mir geht es vielmehr um ein gemeinsames Verständnis von Inklusion. Inklusion bedeutet für alle Menschen, mit und ohne Behinderung, von Beginn an mittendrin dabei zu sein, heute hier, morgen dort. Dafür wirbt die InitiativeSozialraumInklusiv – in unterschiedlichen Regionen, zu unterschiedlichen Themen.

 Als bundesweite Initiative kann sie keine Strukturen aufbauen, um Menschen mit Behinderungen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Sie kann allerdings werben. Werben für eine Gesellschaft, in der allen alles möglich ist, in der anders sein nicht zum Teilhaberisiko wird, in der Vielfalt nicht zum Problem, sondern zur Lösung gehört. Nicht ohne Grund hat der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen seine Amtszeit unter das Motto „Demokratie braucht Inklusion“ gestellt.

 Wenn die InitiativeSozialraumInklusiv also nur werben kann, dann braucht es Akteurinnen und Akteure, die die Intention der Initiative aufgreifen. Ansonsten würde sie ins Leere laufen. Diese Akteurinnen und Akteure sind Sie. Sie sind diejenigen, die auf lokaler und regionaler Ebene Strukturen schaffen und Menschen befähigen können. Sie sind diejenigen, die es Menschen mit Behinderungen ermöglichen können, ihren Aufenthaltsort frei zu wählen. Wohnen, wo und wie ich will.

 Auf der Basis eines hoffentlich gemeinsamen Verständnisses von Inklusion können Maßnahmen geplant und realisiert werden, die es Menschen ungeachtet ihrer Einschränkungen ermöglichen, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten, ihre sozialen Beziehungen ohne Barrieren zu pflegen und der Gesellschaft den Charakter zu verleihen, den sie dringend benötigt –  den vielfältigen.

 Wenn sich dieser Gedanke vor Ort durchsetzt, haben wir bereits viel gewonnen. Dann stellt sich auch nicht mehr die Frage: Lohnen sich die Anstrengungen? Ist es den Aufwand wert? Verursacht es nicht zu hohe Kosten? Gibt es nicht andere Lösungen? Wenn Vielfalt das Ziel ist, dann ist Teilhabe der Weg dahin.

Wir wissen: Wege verbinden. Heute, im Laufe der Veranstaltung,  werden wir ganz unterschiedliche Wege hin zu einem inklusiven Sozialraum kennenlernen. Und selbstverständlich hege ich die Hoffnung, dass durch den regen Austausch und die Diskussion im Plenum und in den Foren Verbindungen entstehen –  Verbindungen zwischen den verschiedensten Akteurinnen und Akteuren, die alle bereichern und im besten Falle neue Ideen und Pläne entstehen lassen.

In diesem Sinne wünsche ich uns allen spannende Diskussionen und eine erfolgreiche Veranstaltung.

Mainz, 23. September 2019