Bundesfachstelle Barrierefreiheit

Bereich InitiativeSozialraumInklusiv

Inklusiver Sozialraum

Für mehr Barrierefreiheit in Kommunen und Regionen

Rede von Dr. Volker Sieger - Einführung in die Thematik

Hier können Sie die vollständige Rede nachlesen, die Dr. Volker Sieger, Leiter der Bundesfachstelle Barrierefreiheit, zur Eröffnung der 4. Regionalkonferenz der InitiativeSozialraumInklusiv (ISI) hielt. Die Konferenz hatte das Thema "Unterstützung, Assistenz und Pflege in einem inklusiven Sozialraum" und fand am 23. März 2021 in Chemnitz bzw. online statt.

Dr. Volker Sieger:

Wie, wann, wo und durch wen …

Der inklusive Sozialraum zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass Menschen mit Behinderung selbstbestimmt am Leben in der Gemeinschaft teilhaben können. Unabhängig, ohne Einschränkung, entsprechend ihren Bedürfnissen, Neigungen und Interessen. Am ehesten zum Ausdruck gebracht wird dies in Artikel 19 der UN-Behindertenrechtskonvention, der den Titel trägt „Unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft“. Folgerichtig enthält der Artikel die Aufforderung an die Staaten, den Zugang zu gemeindenahen Unterstützungsdiensten, einschließlich der persönlichen Assistenz, zu gewährleisten.

Unsere heutige Konferenz widmet sich genau diesem Thema. Dabei wollen wir die ganze Palette an Dienstleistungen beleuchten: von der niederschwelligen Unterstützung im Alltag für Menschen unterschiedlichen Alters und mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen über die klassische Assistenz im Rahmen der Eingliederungshilfe nach SGB IX bis hin zu pflegerischen Dienstleistungen. So vielfältig unsere Gesellschaft ist, so vielfältig müssen auch die Dienstleistungen sein, die als notwendige Voraussetzung für eine ansonsten selbstständige und selbstbestimmte Bewältigung des Alltags benötigt werden.

Im Vordergrund soll also nicht die Frage stehen, wer aufgrund welcher Beeinträchtigung und Bedarfe Anspruch auf welche Leistungen hat. Vielmehr möchten wir in den Mittelpunkt unserer Konferenz die Frage stellen: Was muss denn angeboten werden, wie sind die Angebote zugeschnitten, wie sind sie miteinander vernetzt, damit Menschen ungeachtet eines Unterstützungsbedarfs tatsächlich unabhängig und selbstbestimmt leben können?

Nur anhand dieser Fragestellung lässt sich herleiten, welche Substanz denn das viel beschworene Wunsch- und Wahlrecht tatsächlich aufweist. Denn auch dieses Wunsch- und Wahlrecht ist nicht ohne Interpretationsspielraum. Was beinhaltet es eigentlich?

Aus meiner Sicht muss zunächst der Mensch in den Mittelpunkt gerückt werden - mit all seinen Fähigkeiten, seinen Potenzialen, sprich, seinen Ressourcen. Diese nutzt er, um seinen Lebensentwurf oder seine Vorstellung von einem guten und erfüllten Leben zu verwirklichen. Dieser individuelle Lebensentwurf mag traditionell oder auch quer zum Mainstream sein. Er begründet sein Handeln, seine Interessen, seine Einstellungen.

Dieser ganz individuelle Lebensentwurf mit all seinen Facetten ist die Basis für alle Unterstützungsleistungen. Er begründet die Interpretation des Wunsch- und Wahlrechts und ist Maßstab für den Grad der Selbstbestimmung. Es geht also im Kern nicht um die Wahl zwischen zwei Anbietern von Dienstleistungen, was zugegebenermaßen für sich genommen schon ein Problem sein kann, gerade im ländlichen Raum. Es geht darum, dass sich Menschen mit ihren Ressourcen entfalten können und ihnen die dafür notwendigen Unterstützungs-, Assistenz- und Pflegedienstleistungen zur Verfügung stehen.

Und da sich Lebensentwürfe und Lebenssituationen ändern können, gilt dies selbstverständlich auch dann. Heute mehr denn je. Erwerbsbiografien, die nicht vom ersten bis zum letzten Arbeitstag vorhersehbar sind, werden in unserer Gesellschaft zur Regel. Soziale Beziehungen verändern sich schneller als früher. Partnerschaften finden sich, zerbrechen und entstehen unter anderen Vorzeichen und Rahmenbedingungen neu.

Wer aufgrund einer Einschränkung auf Unterstützung angewiesen ist, muss auch die Möglichkeit besitzen, selbst zu bestimmen, wie, wann, wo und durch wen er diese Unterstützung in Anspruch nimmt. Nur durch die Existenz vielfältiger Angebote und partizipativer Strukturen erhält das Wunsch- und Wahlrecht Substanz.

Gleichzeitig ist das Thema „Unterstützung, Assistenz und Pflege in einem inklusiven Sozialraum“ nicht allein begrenzt auf die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. Es berührt auch weitere Aspekte. Teilweise ist dies im vergangenen Jahr, mit seinen coronabedingten Einschränkungen, besonders deutlich geworden. Um zu veranschaulichen, was ich meine, möchte ich Artikel 12 Absatz 3 der Behindertenrechtskonvention zitieren. „Die Vertragsstaaten treffen geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen Zugang zu der Unterstützung zu verschaffen, die sie bei der Ausübung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit gegebenenfalls benötigen.“

Ich möchte hier nicht zu sehr ins Detail gehen und die Pandemie auch nicht als Maßstab für das wirkliche Leben nehmen. Aber die Frage sei doch erlaubt, ob allen Menschen, die Unterstützung bei der Ausübung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit zwingend benötigen, diese Unterstützung im zurückliegenden Jahr tatsächlich immer auch gewährt wurde. Wenn ich pandemiebedingt aufgrund fehlender Unterstützung zeitweise nicht selbstbestimmt am Leben in der Gemeinschaft teilhaben kann, ist das schon schlimm genug. Wenn ich aufgrund fehlender Unterstützung aber zeitweise meine Rechts- und Handlungsfähigkeit verliere, ist das ein Desaster!

Und schließlich möchte ich noch eine weitere Dimension unseres heutigen Themas zumindest anreißen. Die Freizügigkeit. Das Recht auf Freizügigkeit gilt in Deutschland ja nicht erst, seitdem Artikel 18 der Behindertenrechtskonvention es erwähnt. Auch Artikel 11 des Grundgesetzes enthält entsprechende Festlegungen. Trotzdem ist zu konstatieren, dass die Freizügigkeit von Menschen mit Behinderungen manchmal bereits an der Grenze zum nächsten Landkreis endet - und zwar aufgrund fehlender Unterstützungs- und Assistenzleistungen. Auch das gehört zur Wahrheit und sollte thematisiert werden.

Wenn ich jetzt ganz weit ausholen wollte, könnte ich noch ausführen, dass im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union in Artikel 21 die Personenfreizügigkeit, in Artikel 45 die Arbeitnehmerfreizügigkeit festgeschrieben ist, während in § 101 SGB IX die Gewährung von Eingliederungshilfe im Ausland grundsätzlich ausgeschlossen wird. Aber das ist ein Leistungsthema und das soll heute ja gerade nicht im Mittelpunkt unserer Konferenz stehen.

Sondern, wie anfangs gesagt, wollen wir heute in aller erster Linie erörtern, wie Angebote zugeschnitten und miteinander vernetzt sein müssen, damit Menschen, mit welcher Einschränkung auch immer, trotz Unterstützungsbedarf ein selbstbestimmtes Leben führen können.

Insofern betrachten Sie meine Ausführungen auch bitte nur als gedankliche Anregung auf dem heutigen Weg, das Gute und Vorwärtsweisende in den Vordergrund zu stellen.

Lassen Sie mich abschließend noch ein Wort darüber verlieren, dass unsere heutige Regionalkonferenz die vorerst letzte im Rahmen der vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales ins Leben gerufenen InitiativeSozialraumInklusiv ist. Am 2. Juni wird es noch eine Abschlussveranstaltung mit Bundesminister Hubertus Heil in Berlin geben.

Wir waren mit den Themen „Mobilität“, „Wohnen“ und „Reisen“ in Braunschweig, Mainz und Rostock. Auf allen bisherigen Konferenzen hat sich gezeigt, wie wichtig gute Beispiele sind, damit Entscheidungsträger und Betroffene voneinander lernen können. Der inklusive Sozialraum ist keine eindimensionale Angelegenheit. Er erfordert beharrliches und engagiertes Handeln, damit Strukturen aufgebaut werden, die tatsächlich sozialräumlich und nicht punktuell ausgerichtet sind. Nach den positiven Erfahrungen in Braunschweig, Mainz und Rostock gehe ich davon aus, dass es uns auch heute in Chemnitz gelingt, die sozialräumliche Dimension des Themas „Unterstützung, Assistenz und Pflege“ in den Mittelpunkt unserer Konferenz zu stellen.

Chemnitz, 23.03.2021