Bundesfachstelle Barrierefreiheit

Bereich InitiativeSozialraumInklusiv

Inklusiver Sozialraum

Für mehr Barrierefreiheit in Kommunen und Regionen

Der inklusive Sozialraum

Die Bundesfachstelle Barrierefreiheit wirbt für einen inklusiven Sozialraum als Voraussetzung für die Freizügigkeit aller Menschen. Dazu braucht es eine zeitgemäße Definition des Sozialraums.

Im Zentrum des Sozialraums steht das Individuum. Das bringt die Sichtweise: „Jedes Individuum schafft durch seine Aktivitäten, Vorlieben und Beziehungen Sozialräume und lebt in diesen“ (Deutscher Verein 2011, S.3), treffend auf den Punkt. Ein weiteres wichtiges Element unserer Zeit ist die Veränderung. Unsere Lebensentwürfe verändern sich, auch die von Menschen mit Behinderungen. Kommunen und Regionen sind ein wesentlicher Ansatzpunkt für das individuelle Leben. Weitergedacht wird jedoch schnell klar, dass sich der räumliche Lebensmittelpunkt meist nicht nur einmal im Leben ändert. D.h. der inklusive Sozialraum muss in der Fläche verwirklicht werden und inklusive Strukturen müssen miteinander vernetzt sein. Das ist die Grundvoraussetzung um tatsächliche Freizügigkeit für alle Menschen zu schaffen. Freizügigkeit – nicht im rechtlichen, sondern übertragenen Sinne – bedeutet für Menschen mit Einschränkungen, adäquate Bedingungen gemäß ihrem angestammten Ort überall vorfinden zu können. Diese tatsächliche Freizügigkeit muss Maßstab für die Gestaltung eines inklusiven Sozialraums sein.

Wie möchte ich eigentlich leben? Die Bundesfachstelle Barrierefreiheit wirbt für einen inklusiven Sozialraum als Voraussetzung für die tatsächliche Freizügigkeit aller Menschen.

Denkanstöße der Bundesfachstelle Barrierefreiheit
für eine zeitgemäße Definition des Sozialraums

„Jedes Individuum schafft durch seine Aktivitäten, Vorlieben und Beziehungen Sozialräume und lebt in diesen“ (Deutscher Verein 2011, S. 3). Diese auf den Punkt gebrachte Sichtweise auf den Sozialraum war Grundlage für die im Rahmen der InitiativeSozialraumInklusiv (ISI) durchgeführten Regionalkonferenzen. Im Mittelpunkt stand die Inklusion und damit die Frage: Was macht einen inklusiven Sozialraum aus?

Die Antworten, die auf diese Frage gegeben wurden, waren im Wesentlichen geprägt von kommunal und regional ausgerichtetem Handeln. Das ist gut so, denn der Sozialraum, auch der inklusive, wird zu einem großen Teil durch das kommunale und regionale Umfeld beeinflusst. Hier kann der inklusive Sozialraum „als Ort im räumlichen wie sozialen Sinn, an dem sich […] Akteure […] begegnen und an dem sie unter Berücksichtigung sowohl des sozialen Umfeldes als auch der lokalen wie der entsprechenden (infra-)strukturellen Besonderheiten zusammenwirken“ (Becker et al. 2013, S. 5), kreativ gedacht, diskutiert und umgesetzt werden. Deshalb sind gute Beispiele aus der kommunalen Praxis so wichtig. Sie haben Vorzeigecharakter und liefern im besten Fall die Lust auf Nachahmung. ISI bot den Platz, positive Beispiele zu zeigen und somit auch die vielfältigen und unterschiedlichen Lebensbedingungen von Menschen sichtbar zu machen. Denn wir leben in einer Zeit, in der sich Lebensentwürfe ständig ändern können – sei es, weil der neue Job einen in die nächste Stadt verschlägt, sich Partnerschaften auflösen, die Eltern älter und gepflegt werden müssen. Die Digitalisierung oder auch Umweltfaktoren wie die Corona-Pandemie beschleunigen gesellschaftliche Veränderungen und damit das Leben der Menschen.

Diese Veränderungen betreffen auch Menschen mit Behinderungen; und zwar in gleichem Maße wie Menschen ohne Einschränkungen. Aber in den seltensten Fällen mit den gleichen Möglichkeiten, darauf individuell zu reagieren.

Menschen mit Behinderungen müssen in ihren jeweiligen Lebenssituationen deshalb befähigt werden, Wünsche umzusetzen und Rechte auszuüben. Sie müssen Struk­turen vorfinden, die zum einen zu ihren Bedürfnissen passen und zum anderen an jedem beliebigen Ort barrierefrei auffindbar, zugänglich und nutzbar sind.

Was verstehen wir unter inklusivem Sozialraum?

Der Sozialraum an sich ist nicht starr, sondern flexibel und veränderbar. Charakteristika eines solchen Raums sind Beziehungen, Vielfalt und Fragmentierung. Unterschiedliche Akteure interagieren miteinander, dadurch entstehen gleichzeitig verschiedene Narrative. Es existieren sowohl Zusammen­hänge als auch Brüche (Massey 2003, S. 31 f.). Das spiegelt die Komplexität der individuellen Lebensentwürfe der Menschen wider.

Unter einem inklusiven Sozialraum verstehen wir eine von Menschen gestaltete Umwelt, die alle Menschen gleichermaßen befähigt, ihren individuellen Lebensentwurf zu verwirklichen. Der Mensch und seine Ressourcen stehen also im Mittelpunkt. Entlang des Lebenslaufes kann sich auch der Sozialraum verändern. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass er dies tut. Das gesamte Umfeld muss hier flexibel reagieren, damit Menschen mit Einschränkungen ihre Rechte wahrnehmen und darin leben können. Deutlich wird dies exemplarisch an den Themen, die ISI behandelt hat: „Mobilität“, „Wohnen“, „Einfach reisen“, „Unterstützung, Assistenz und Pflege“. Hier zeigt sich die Mehrdimensionalität des inklusiven Sozialraums.

Ganz besonders an den Themen „Wohnen“ sowie „Unterstützung, Assistenz und Pflege“ wird aber noch eine weitere, bislang nur unzureichend betrachtete Dimension der Teilhabe sichtbar.

In Artikel 19 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) über die unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft wird Menschen mit Behinde­rungen das Recht zugestanden, gleichberechtigt ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben wollen. Im Kern geht es hier nicht um den Aufenthaltsort, das „Wo“ und „Mit wem“. Es geht um das Leben. Und das kann sich, auch aufgrund äußerer Einflüsse, ändern. 

Deshalb ist auch die essenzielle Frage beim Thema „Unterstützung, Assistenz und Pflege“: Wie müssen Angebote zugeschnitten und miteinander vernetzt sein, damit Menschen ungeachtet eines Unterstützungsbedarfs tatsächlich unabhängig und selbstbestimmt leben können? Auch hier steht der Mensch mit seinem ganz individuellen Lebensentwurf und seinen Ressourcen im Mittelpunkt. Beinhaltet ein Lebensentwurf nicht, das ganze Leben an einem Ort zu verbringen und sich dort mit allen Bedürfnissen einzurichten, sondern – aus welchen Gründen auch immer – den Ort mehrfach wechseln zu wollen, muss auch dies möglich sein. Der Sozialraum muss dafür inklusiv gestaltet sein.

Freizügigkeit und das Recht auf die Wahl des Aufenthaltsortes

Diese Sicht auf den inklusiven Sozialraum weitet die Perspektive, nicht nur auf individuelle Bedarfe, sondern auch auf die gesamtgesellschaftliche Einordnung der Themen „Inklusion“, „gleiche Rechte für alle“ und deren Umsetzung. Sie eröffnet nicht zuletzt den Blick auf das Thema „Freizügigkeit“.

Das Recht auf Freizügigkeit wurde bereits 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgehalten. Danach hat jeder Mensch das Recht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen sowie das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren. Auch Artikel 11 des Grundgesetzes enthält entsprechende, auf die Bundesrepublik Deutschland bezogene Aussagen. Bestimmungen zur Freizügigkeit sind auch im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union enthalten. In Artikel 21 des Vertrages ist die Personenfreizügigkeit, in Artikel 45 die Arbeitnehmerfreizügigkeit festgeschrieben. (BMAS 2021, S. 397) 

Denkt man über die Umsetzung des Rechts auf Freizügigkeit nach, wird klar, was für Menschen mit Behinderungen zwar rechtlich möglich, in den seltensten Fällen jedoch Realität ist: sich jederzeit von einem Ort zum anderen bewegen zu können und dabei an jedem Ort uneingeschränkt auf alle Unterstützungsleistungen und sonstigen Umweltfaktoren zu treffen, die individuell benötigt werden. Alle Themen, die ISI behandelt hat, haben unter anderem eins gemeinsam: die Frage nach den individuellen Umsetzungsmöglichkeiten. Es kann nicht mehr nur gesellschaftlicher Konsens sein, dass Menschen mit Behinderungen punktuell an einem angestammten Ort gemäß ihren individuellen Bedürfnissen leben können. Freizügigkeit – nicht im rechtlichen, sondern übertragenen Sinne – bedeutet für Men­schen mit Einschränkungen, adäquate Bedingungen gemäß ihrem angestammten Ort überall vorfinden zu können. Ohne dieses Grundverständnis lassen sich Themen wie „Mobilität“, „Wohnen“, „Einfach reisen“ oder „Assistenz“ und weitere Querschnittsthemen in einem inklusiven Sozialraum nicht zeitgemäß denken und zukunftsweisend umsetzen. 

Die freie Wahl des Aufenthaltsorts setzt also inklusive Strukturen voraus, die nicht punktuell, sondern miteinander vernetzt sind: Pflege- und Unterstützungsdienste, ärztliche Versorgung in der Fläche, genügend barrierefreie Wohnungen, barrierefrei nutzbare Infrastrukturen wie z. B. einen ÖPNV, den alle nutzen können – und all das mit Selbstverständlichkeit nutzbar auch für Menschen mit Behinderungen. Das Recht auf Freizügigkeit ist deshalb gleichermaßen Spiegelinstrument als auch Definition des inklusiven Sozialraums: Funktioniert Freizügigkeit für alle Menschen, funktioniert der inklusive Sozialraum. Aus den für die Freizügigkeit geltenden rechtlichen Instrumenten müssen daher die Maßstäbe für die Ausgestaltung des inklusiven Sozialraums abgeleitet werden. Nur so lässt sich tatsächliche und nicht nur rechtlich garantierte Freizügigkeit für Menschen mit Behinderungen umsetzen.

Wo kommen wir her? Warum ist ISI das richtige Format gewesen, um den inklusiven Sozialraum voranzubringen?

All das zeigt: Der inklusive Sozialraum ist keine eindimensionale Angelegenheit. Er erfordert beharrliches und engagiertes Handeln, damit flächendeckend Strukturen aufgebaut werden, die tatsächlich sozialräumlich und nicht nur punktuell ausgerichtet sind. Die Stärke der Initiative war es, die räumlichen Ebenen miteinander zu verknüpfen, ins Gespräch zu bringen und gleichzeitig ressortübergreifend zu denken. Barrierefreiheit ist – bei allen noch bestehenden Unzulänglichkeiten – vom Grundsatz her gesetzlich geregelt. Das ist für den inklusiven Sozialraum kaum möglich. Wie wir im Rahmen von ISI gesehen haben, gibt es bereits viele gute Ansätze. Diese sind jedoch noch lange nicht ausreichend.

Was notwendig ist, ist eine gesellschaftliche Neuorientierung und ein gemeinsames Verständnis der Gesellschaft darüber, was inklusiver Sozialraum ist. Das bedeutet einen Wandel und das bedeutet Verantwortung – Verantwortung darüber, wie wir soziale Beziehungen gestalten und damit Offenheit, Vielfalt und Differenzen als echte Bestandteile unserer Gesellschaft und Politik etablieren (Massey 2003, S. 44 f.). Offenheit, Vielfalt und Differenzen als echte Bestandteile unserer Gesellschaft und Politik ermächtigen alle Menschen, ihren individuellen Lebensentwurf zu verwirklichen, wie eigenwillig dieser auch sein mag. Um diesen Wandel voranzubringen und Impulse zu setzen, ist ISI genau das richtige Format gewesen.

In diesem Sinne wird die Bundesfachstelle Barrierefreiheit auch weiterhin für einen inklusiven Sozialraum als Voraussetzung für die tatsächliche Freizügigkeit aller Menschen werben.

Literatur

Becker, Ulrich / Wacker, Elisabeth / Banafsche, Minou (Hg.) (2013): Inklusion und Sozialraum – Behindertenrecht und Behindertenpolitik in der Kommune – (Studien aus dem Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik Bd.59), Baden-Baden

Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.) (2021): Dritter Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen, Berlin

Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e. V. (2011): Eckpunkte des Deutschen Vereins für einen inklusive Sozialraum (www.deutscher-verein.de)

Massey, Doreen (2003): Spaces of Politics – Raum und Politik. In: Kulturgeographie – Aktuelle Ansätze und Entwicklungen. Gebhardt, Hans / Reuber, Paul / Wolkersdorfer, Günter (Hg.) Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, Berlin, S. 31 – 46